Data Sharing is Caring
Wie Daten und Algorithmen schon bald unsere Zukunft bestimmen und wie der Erfinder der Internets seine Schöpfung retten will

Willst du schnell Millionär werden? Dann fange am besten noch heute an, Daten zu sammeln. Denn Daten sind das neue Geld. Und Big Data sind das ganz große Geld. Du kannst nicht folgen? Macht nichts. Fangen wir langsam an.
Die schlechten Neuigkeiten zuerst: Vielleicht ist es dir noch nicht klar, aber du arbeitest für Milliardenunternehmen - völlig unentgeltlich. Denn du lieferst wertvolle Daten, ohne auch nur einen Cent Lohn zu erhalten. Du bist quasi der moderne Bergarbeiter im Datenzeitalter, oder „Data Miner“, wie es neudeutsch heißt. Immer fleißig am Klicken, lieferst du brav ab. Tag für Tag. Klick für Klick. Mit jedem YouTube-Video, dass du siehst, jedem Post, den du likest, mit jeder Frage die du googlest, lieferst du wertvolle Daten. Du schickst die Frage „Blinddarm Schmerzen wo?” in die Suchmaschine, laut Google eine der häufigsten Fragen im letzten Jahr, und lieferst dem Algorithmus Einsichten über deine Gesundheit. Du siehst dir auf Youtube Videos über Latte Art an, und erzählst einem Algorithmus kostenlos von deinen Kaffevorlieben. Dein Saugroboter saugt deine Wohnung, und du verrätst dem Hersteller den genauen Grundriss und die Größe deiner Wohnung in Quadratmetern. Alles was du jemals gesucht, geliket, geshoppt, geklickt hast, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit von Algorithmen gespeichert. Jedes Sportarmband, jedes Navigationssystem, jede Smartwatch jede digitale Waage mit Pulsmessfunktion, jede Webseite die du besuchst und jede App die du nutzt, sammelt Tonnen an wertvollen Daten, vom Herzschlag bis zu der Häufigkeit deiner Zahnarztbesuche.



Und dieser immer weiter wachsende Berg von Informationen über dich und jeden einzelnen Menschen wird permanent analysiert. Die Programmierer der Internetriesen entwickeln immer schlauere Algorithmen, die aus diesen Daten zum Beispiel immer präzisere digitale Profile von uns berechnen. Laut einer Untersuchung der Washington Post errechnet etwa der Facebook-Algorithmus anhand deines Surfverhaltens 98 Merkmale von dir, darunter auch dein Bildungsniveau, wie teuer dein Haus ist, in welchem Jahr du dein Auto gekauft hast, welche TV-Sendungen du am liebsten siehst, ob du Guthaben auf der Kreditkarte hast und vieles mehr. Der heutige Stanford-Professor Michal Kosinski hat als Forscher an der Cambridge Universität einen Algorithmus entwickelt, mit dessen Hilfe allein anhand deiner Facebook-Daten ein präzises Persönlichkeitsprofil von dir erstellt werden kann. Bist du eher konservativ oder liberal? Eher impulsiv und spontan oder organisiert und hart arbeitend? Eher ruhig oder extravertiert, eher wettbewerbsorientiert oder ein Teamarbeiter? Je mehr du „gefällt mir“ geklickt hast, desto besser kennt dich der Algorithmus. Ab 70 Likes und mehr kann er dich besser einschätzen als ein Freund, ab 150 besser als deine Eltern, und ab 300 besser, als der eigene Partner, so Kosinski, der die Ergebnisse des Algorithmus mit den Ergebnissen von Persönlichkeitstests abglich. Die Persönlichkeitstest basierten auf Fragebögen, die vorab von den Probanden ausgefüllt wurden.
Jetzt aber Tacheles. Wo bleiben die guten Nachrichten? Wieviel ist denn nun deine Arbeit als Data Miner wert? Das verrät natürlich niemand. Spätestens aber, wenn ein solches Unternehmen verkauft wird oder an der Börse bewertet wird, oder wenn Fälle wie Cambridge Analytica aus der Dunkelheit ans Tageslicht kommen, wissen wir: Mit unseren Daten machen andere Milliarden. Bei der Übernahme von Instagram etwa waren es 20 Dollar pro Nutzer, bei WhatsApp 55 Dollar und bei Skype gar 200 Dollar. Heute verdienen die Internet-Giganten mit unseren Daten Milliarden, indem sie Unternehmen helfen, passgenau Werbung zu platzieren und Produkte massenhaft zu verkaufen. Denn smarte Algorithmen wissen ganz genau, dass sich Mia aus München heute für ein ganz bestimmtes Paar Schuhe begeistern lässt und Michael aus Michigan für ein größeres Auto, denn seine Frau und er haben Nachwuchs bekommen und ihr jetziges Auto ist schon sechs Jahre alt. Auch weiß der Algorithmus, wie teuer das Auto sein darf und welche Automarke zu Michaels Persönlichkeitsprofil am besten passt.
Doch die wahre Macht unserer Daten erschließt sich erst beim Blick in die Zukunft. Stell dir zum Beispiel vor, zwei Politiker sind im Wahlkampf. Der eine nutzt Algorithmen, der andere nicht. Durch das unvorstellbare Wissen über jeden einzelnen Wähler und die Möglichkeit mit passgenauen Informationen zu überzeugen, hat der erste Politiker einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Bei Erfolg, und den wird er zweifelsfrei haben, wird der Politiker auch zukünftig seinen Algorithmus entscheiden lassen, welche Themenschwerpunkte er setzt und welche Argumente er nutzt. Er wird es dem Algorithmus überlassen, welche Strategie er, oder sagen wir besser der Algorithmus, verfolgen soll. Schließlich ist dieser in der Lage, in kurzer Zeit ein schier unendliches Meer an Daten zu analysieren und daraus viel bessere Entscheidungen zu treffen, als es dem Politiker oder seinem ganzen Wahlkampfteam jemals möglich wäre.
Und wäre es nicht toll, wenn Algorithmen dir dank biometrischen Sensoren in deinem Körper genau sagen, welche Menge an Omega 3 und Vitamin B12 du heute zu dir nehmen solltest, damit dein Gehirn optimal funktioniert und du leistungsfähiger wirst? Und dir gleich deine neuen Lieblingsrezepte vorschlägt und die nötigen Produkte für dich bestellt und zubereitet?
Warum dieses Internet nicht im Sinne seines Erfinders ist, und wie ein Open-Data-Gesetz helfen könnte
Schon jetzt ist der Trend zu erkennen, dass wir immer mehr Entscheidungen Algorithmen überlassen. Algorithmen, die immer mehr über uns wissen, die irgendwann womöglich in der Lage sein werden, über biochemische Prozesse unsere Gefühle und damit unsere Entscheidungen zu steuern. Algorithmen die wir selbst gleichzeitig immer weniger verstehen. Wem wir unsere Daten geben,
dessen Algorithmen entscheiden heute schon, was Milliarden Menschen in ihren Feeds und Suchergebnissen sehen. Wem wir unsere Daten geben, in dessen Hände legen wir unsere Zukunft. Dieses Internet ist nicht im Sinne seines Erfinders: Tim Berners-Lee, unglücklich über die Entwicklung seines „Babys“, hat im vorvergangen Jahr die Open-Source-Plattform Solid ins Leben gerufen. Diese sichert den Nutzern das alleinige Eigentum an ihren Daten. Immer mehr Politiker fordern die Zerschlagung der Internet-Giganten, die unsere Daten für sich behalten und nutzen, so etwa die US-Senatorin Elisabeth Warren. Ähnliche Forderungen gibt es auch in der EU: Die SPD etwa fordert, dass Monopole wie Google und Facebook Daten in anonymisierter Form teilen müssen, um so deren Machtposition auszuhebeln. Mit dem „Open-Data-Gesetz“ soll ein Rechtsanspruch auf offene Daten etabliert werden. Die Grünen fordern eine europaweite staatliche Alternative zu Facebook, die sich durch Rundfunkgebühren statt durch unsere Daten finanziert.

Es stellt sich nur die Frage, ob die Macht über unsere Daten langfristig in der Politik tatsächlich besser aufgehoben ist als in der Wirtschaft. Im Interview mit der Welt warnt der US-Miliärstratege Sean McFate sogar, das Staaten bereits heute die Macht von Daten und Algorithmen nutzen, um eine neue Art von modernem Krieg zu führen. Statt viel Geld für teure Panzer und Kampfjets auszugeben, nutzen immer mehr Staaten viel günstigere und vor allem anonymere Waffen, nämlich Social-Bots und Trolle. Die manipulieren in den sozialen Medien gezielt die Stimmungsbilder für ihre strategischen Interessen, so McFate. Mithilfe von Daten natürlich, die wie ein Schmieröl die Manipulationsmaschine erst richtig effizient und kostengünstig machen: Für nur 300 Euro konnten laut einem gerade veröffentlichtem Bericht Stratcom-Forscher 50.000 Interaktionen auf Facebook kaufen. Das Ergebnis des Brexit beispielsweise sei nur ein militärstrategischer Erfolg Russlands zur Destabilisierung Europas, so McFate im Welt-Interview. Die Schlüsselfrage ist: Wem sollten die Daten gehören. Denn wer die Daten besitzt, dem gehört in Zukunft die Macht.
Wie wäre es, wenn wir die Resource Daten nutzen könnten, um für Alle Gutes zu tun
Dabei könnte man mit all diesen gesammelten Daten auf der Welt so viel Gutes tun! Zum Beispiel die Umwelt schützen: Wie schön wäre es, wenn Städte mit Hilfe frei zugänglicher anonymisierter Mobilitätsdaten von etwa Car-Sharing-Unternehmen oder Navigations-Apps dafür sorgen könnten, dass Bus und Straßenbahn pünktlicher kommen, und auch nur dann, wenn sie gebraucht werden. Wie stark würde das Verkehrs- und CO₂-Aufkommen sinken?
Wie schön wäre es, wenn all die Gesundheits- und Vitaldaten, die Millionen Besitzer von Smartwatches, digitalen Körperwaagen, Fitnessbändern und Gesundheitsapps wie zum Beispiel Schlaf Apps auf der ganzen Welt sammeln, Forschern im Gesundheitsbereich in anonymisierter Form zugänglich wären. Sie könnten leichter Muster erkennen, die Krankheiten verursachen und hilfreiche Maßnahmen identifizieren, die das Entstehen von Krankheiten verhindern. Sie könnten schneller erkennen, welche Therapieformen beim jeweiligen Patienten am besten wirken und Krankheiten schon eindämmen, bevor sie überhaupt entstehen. Wie hilfreich solche Daten verwendet werden können, zeigt sich auch in der Corona-Krise: Die Deutsche Telekom hat dem Robert-Koch-Institut anonymisierte Massendaten aus dem Mobilfunknetz zur Verfügung gestellt, damit die Forscher leichter Vorhersagen zur Ausbreitung des Virus berechnen können. Beim Online-Spiel „Sea Hero Quest“ haben über 4 Millionen Menschen mitgespielt und Daten für die Demenzforschung gesammelt. Wie schön wäre es, wenn der Datenreichtum nicht von wenigen wie ein Schatz gehütet würde, um deren bereits jetzt immensen Vorsprung und deren Monopolstellung weiter ausbauen, sondern wenn wir stattdessen alle Zugriff auf diese von uns allen generierten Daten in anonymisierter Form hätten. Wenn wir alle über die Gestaltung der Algorithmen mitentscheiden könnten, um diese zum Wohle der Gesellschaft und zum Erhalt der Umwelt statt zur Erreichung ökonomischer Ziele und zum Machtausbau zu nutzen?
Von Startpage bis Diaspora: Warum du mehr tun kannst als du denkst. Dein Beitrag zählt.
Doch mit dem Finger auf die „bösen Großen“ zeigen ist leicht, bringt niemanden weiter. Das Gute ist: Das Internet bietet schon heute viele Möglichkeiten, unser Netz nach unseren eigenen Wünschen mitzugestalten: Niemand zwingt uns,
Suchmaschinen mit unseren privaten Geheimnissen zu füttern, wenn Plattformen wie startpage.com uns dieselben Suchergebnisse liefert, nur ohne Daten abzusaugen und ohne Filterblase. Niemand verbietet uns, uns über eine soziale Plattformen wie Diaspora zu vernetzen, die sämtliche Daten den Nutzern belässt. Niemand verbietet uns, die demokratischen Möglichkeiten auszuschöpfen, die das Internet bietet, und zum Beispiel Online-Petitionen unsere Stimme zu geben, die eine gemeinnützige ökologische Datenregulierung auf der Welt fordern. Niemand hindert uns, uns im Netz Bewegungen anzuschließen und Politiker zu wählen, die die Ressource Daten auf der Welt gerechter verteilen.
Daten und Algorithmen an sich sind neutral – entscheidend ist was wir daraus machen. Das Internet macht große Bewegungen möglich, die die Welt wirklich braucht. Greta Thunberg macht’s vor. Warum soll unser Netz nicht auch helfen, das Netz selbst wieder zu einem besseren Ort zu machen und die Zukunft der Daten mitzugestalten? Data sharing is caring. Tim Berners-Lee würde das sicher gefallen. Und jetzt bist du gefragt.
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